Paul Bowles – Der Titan von Tanger

© Erschienen in Allegra

Tanger – Wird die Begegnung mit Paul, wie ihn hier alle ganz familiär nennen, so sein, wie alle hier in Tanger sagen – alle, die ihn vergöttern, und auch die Handvoll, die ihn nicht ausstehen kann? Wird der Titan von Tanger, 88 Jahre alt, in seinem verdunkelten Zimmer auf dem Bett liegen, nachmittags den ockerfarbenen Morgenmantel tragen, pünktlich den 5-Uhr-Tee mit einem Strohhalm aufsaugen und ohne Unterlaß kiffen?

„Sie müssen Paul unbedingt besuchen“, rät bei unserem Besuch 1999 Mohamed Choukri, dessen Bekanntschaft alleine schon ein Reise nach Tanger wert ist. Choukri, krauses Haar und dicker Oberlippenbart, gilt als einer der wichtigsten arabischen Schriftsteller der Gegenwart. Mittags um zwölf sitzt er fast täglich nahe dem Place de France im Café Pilo, trinkt sein Kreativbier und entgrätet nebenbei mit den Fingern fritierte Sardellen. Früher war Choukri um diese Zeit schon so betrunken oder zugekifft, daß er kaum mehr ansprechbar war. Aber mit 60 kennt er nun schon Maß und Ziel.

Choukris Bücher stehen zum Teil auf dem Index, hier in Marokko und in fast allen islamischen Ländern. Militante Moslems haben ihn ganz oben auf ihre schwarze Todesliste gesetzt. Choukri erzählt – wenn man ihn ausfragt, sonst schweigt er einen an -, nicht anders als in seinen Büchern: Kurze Sätze, klare Worte eines bescheidenen Mannes, der sich als Teenagerganove durchschlug, mit 15 schon fast jede Nutte in Tanger beschlafen hatte und erst mit 21 lesen und schreiben lernte. „Tanger hat nichts Eigenes. Es lebt nur vom Blut der anderen, von der Inspiration der Fremden“, sagt er ohne Pathos ganz allgemein. Jugenderinnerungen formuliert er beiläufig: „Ich konnte damals aus den Mülleimern der Ausländer gut essen.“

Choukri also, der die Wohnung mit einem Eichhörnchen teilt, schätzt Pauls Arbeit hoch, aber privat mag er ihn nicht mehr leiden. Doch das wird er erst viel später preisgeben, wenn abermals die Rede auf die Legende der Weltliteratur, den existentialistischen Kultschriftsteller Paul Bowles kommt, zum Denkmal geworden durch seinen von Bernardo Bertolucci („Der letzte Kaiser“) verfilmeten Bestseller „Himmel über der Wüste“. Die Geschichte handelt, 1940 in Tanger geschrieben, von Port (John Malkovich) und seiner Frau Kit (Debra Winger), ein amerikanisches Aussteigerpärchen, das der Zivilisation überdrüßig mit Champagner im Koffer durch die Sahara reist. Die Suche nach dem Thrill des Orients endet furchtbar: Port stirbt im Typhus-Delirium; Kit wird von Beduinen vergewaltigt und verfällt dem Wahnsinn. Das Buch sei auch eine Parabel auf Tanger, sagen viele, die auch meinen: Paul ist Tanger, Tanger ist Paul.

Paul bleibt vorerst unauffindbar, ein Phantom. Wer weiß, ob er sich nicht schon totgekift hat, und keiner hat’s gemerkt. Egal, Tanger, Afrikas Schwel-le nach Europa, harrt der Entdeckung. 14 Kilometer, gerade zwei Stunden braucht man mit der Fähre über die Straße von Gibraltar bis zur spanischen Küste. Das moderne Tanger ist unansehnlich. In Bestlagen stehen die als „Kif-Silos“ bezeichneten Hochhäuser leer. Auf karg-grüne Wiesen gebaut, mit Gras finanziert. Flair entfaltet das neue Tanger nur zwischen fünf und neun am Abend, wenn mann in den Straßencafés entlang des Boulevard Pasteur sitzt, bei Café au lait Müßiggang zelebiert und beiläufig den hübschen Marokkanerinen hinterhersieht. Das Herz der Stadt aber bildet die Medina, der Petit Socco, ein orientalischer Souk mit verwinkelten steilstufigen Gassen. Geschäft an Geschäft, Werkstätten, Gold- und Silberläden, kleine Cafés, ab dem Nachmittag ein arges Menschengeschiebe.

Wer nur durch den malerischen Petit Socco hetzt, der sieht zwischen verschleierten Frauen und Männern in langen Kaftanen nichts außer Teppich-, Lebensmittel- und Postkartengeschäften, fragt sich vielleicht, wer all die feilgebotenen Blechtöpfe und bunten Plastikeimer kaufen soll, deren Menge den Grundbedarf ganz Afrikas an Haushaltsgeräten decken könnte. Erst mit viel Zeit und Ruhe und neugierigen Augen beginnt man hinter die Fassade zu sehen.

In Cafés wechseln kleine Päckchen und größere Banknoten im Hand-Umdrehen den Besitzer. Viele Läden sind nicht mehr als Camouflage. Die zivile Polizei fischt regelmäßig, Knüppel aus dem Sack, soviele Leute ab, wie in einen Mannschaftswagen passen. Irgendein Gauner ist garantiert immer dabei. Der Rest sitzt mit blutigen Nasen ein paar Stunden später wieder im Sokko. Bis zum nächsten Gauner und Gendarm.

Im Socco nistete sich einst Barbara Hutton ein, die Woolworth-Erbin, das „little poor rich girl“. Daß eine der reichsten und unglücklichsten Frauen der Welt diese Nachbarschaft suchte, um umgeben von Armut in einem mondänen Goldkäfig zu leben – im Socco vergißt man sie nicht, die Barbara und ihre glamourösen Feste, für die der arme Socco, der schmuddelige Socco die folkloristische Kulisse abgab.

Tanger, der Mythos. Ihren Ruf verdankt die 280 00-Einwohner-Stadt dem internationalen Status, den sie von 1923 bis bis zur Angliederung an das Königreich Marokko im Jahr 1956 hatte. Tanger war Freihafen. „Es herrschte pure Anarchie“, erinnert sich Madame Rachel Muyal. Sie führt seit 42 Jahren die Buchhandlung „Librairie des Colonnes“, in der Truman Capote, Tennessee Williams, Taher Ben Jalloun, Choukri, Bowles und wie all‘ die Tanger-Literaten hießen und heißen, lasen.

Drogen, Sex, krumme Geschäfte. Europas und Amerikas freakige Intellektuelle, Schickis, Hippies und Aussteiger (auch die mit Champagner im Koffer), Abenteurer und Glücksritter strömen noch immer nach Tanger. Auf den Spuren der großen Freiheit, der großen Deals, auf den Spuren großer Namen.

Tanger, die Stadt der Erinerung. Rick’s Bar befand sich einst im El Minzah, heute ein im maurischen Stil auf nostalgisch renoviertes Hotel nahe dem Petit Socco. Warum der Film mit Humphrey Bogart ausgerechnet nach Casablanca, Marokkos Kapitale der Tristesse, benannt wurde, das weiß auch der 95jährige hagere Mr. Gordon nicht, der im Minzah regelmäßig am Tresen steht. Er ist der letzte lebende Mitbegründer des CIA.

Der Maler Henri Matisse durchlief in Tanger seine blaue Phase, nicht nur künstlerisch. James Bond erwählte für „The Living Daylight“ das Phanasie-Palais Mandoub, das die Medina krönt, als Kulisse. In dem Palast aus tausend und mehr Nächten, feierte der Mulitmilliardär Malcolm Forbes seine pompösen arabischen Nächte. Elizabeth Taylor honeymoonte hier mit ihrem seinerzeit frisch angetrauten Handwerker Larry Fortensky. Stones-Gitarrist Brian Jones ließ sich in Jajouka, ein Dorf außerhalb Tangers – wie lange davor schon Duke Ellington und Dizzy Gillespie – von den Gnaoua-Klängen der Sufis musikalisch inspirieren. „Pipes of Pan“ hieß das Album. Die Marrokaner revanchierten sich bei dem Rolling Stone mit einem marokkanischen Song: „Brahim Jones, Jajouka very stoned“.

„Tanger, die Stadt der Lumpen“, fluchte der Schriftsteller Truman Capote, der wie Tennessee Williams und William S. Burrroughs selten unbekift anzutreffen war. Burroughs, der Prophet der Beat-Generation, hat nie aufgehört zu behaupten, er wisse überhaupt nicht, wie sein Kultbuch „The naked lunch“ in Tanger entstanden sei. Immer wieder beginnen oder enden Geschichten in Tanger mit Kif, das aus den nur 100 Kilometer entferten Rif-Bergen stammt.

Dort liegen die großen Hanfplantagen, die die Europäische Union (EU) nun mit viel Subventionen in Kartoffelacker umwandeln lassen will. Doch die Hanfbauern denken gar nicht daran. Zu gut laufen die großen Deals und auch die kleinen. Einkaufem beim Erzeuger. Was deutschen Winzern recht ist, ist den Kif-Bauern aus dem Rif-Gebirge nur billig. EU-Kartoffeln, igitt!

Tanger, die Laszive. Für so gut wie jeden Marokkaner, der nicht aus Tanger stammt, ist die Stadt der Inbegriff des Sündenfalls, korrupt, verrucht, verdorben, verhurt – und verdächtig, weil man hier ganz kosmopolitisch außer Französisch, der offiziellen Zweitsprache Marokkos, auch noch Englisch und Spanisch spricht. Schwule finden in Tanger mühelos ihre Liebhaber, in Straßencafés oder im Miami Beach Club. Lesben müssen vorsichtiger sein. Homosexualität ist im Islam verboten. Für Frauen ist sie selbst im liberalen Tanger ein bißchen verbotener als für Männer.

Wenn überall sonst in Marokko, in Fez, in Rabat oder in Casablanca, gegen zehn das Leben in Tiefschlaf fällt, dann ist in Tanger erst einmal Schichtwechsel. Die Gassen im Petit Socco leeren sich. Wer jetzt noch mit Blick aufs Meer, im Café Hafa sitzt und die letzen Kringel des Joints in die laue Nachtluft bläst, der ist bald mit sich und dem Kellner allein.

Die Nacht gehört den vagabondes und den frangines, ein arabisch-französiches Wort, übersetzt „die „Freiheitlichen“. Auch bonnes soeurs werden die frangines genannt, die guten Schwestern, die weiblichen Opfer der maroden marokkanischen Wirtschaft: Gelegenheitsprostituierte sind sie, oft geschiedene Frauen mit Kindern.

Im „Les Grottes“, im „Koutoubia Palace“ und im „Flandria Palace“, drei After-Midnight-Diskos mit erträglichen marokkanischer Livebands, manchmal Bauchtanz, trifft man sie. Die Regeln der guten Schwestern sind eisern. Wenn der Aspirant nicht gefällt, dann blitzt er ab. Wer prima ankommt, zahlt nur die Getränke plus freiwilige Morgengabe – und vom reichlich vorhandenen mittelmäßigen Männermaterial dazwischen leben die bonnes soeurs.

12 Uhr mittags. Mohamed Choukri sitzt im Café Pilo, trinkt Bier, Marke Flag. Schreiben Sie gerade an einem Buch? „Ja, es wird ‚Paul Bowles und die Einsamkeit Tangers‘ heißen.“ Man sagt, Sie mögen Bowles nicht; er hat Sie doch entdeckt und berühmt gemacht? „Bowles ist ein Dieb. Er hat sich für meine ersten übersetzten Bücher das Copyright unter den Nagel gerissen. Ich sehe davon keinen Sou. Taher Ben Jalloun hat dasselbe in Frankreich getan.“ Warum verklagen Sie Bowles dann nicht? „Er ist ein alter Herr. Grüßen Sie ihn.“

Das Haus, ein wenig einladender Betonbau, liegt am Rande der Innenstadt. Der Lift funktioniert nicht. Über ein dunkles Treppenhaus erreicht man die vierte Etage. Auf dem kleinen Messingschild an der Tür steht nur der Nachname: Bowles. Ein schnauzbärtiger Marokkaner, der Chauffeur, öffnet. Die Wohnung ist düster. Auf dem Boden, auf dem Sofa, auf den Tischen und in überquellenden Regalen stapeln sich Zeitungen, Zeitschriften und Bücher in Spanisch, Arabisch, Französisch und Englisch. Es riecht nach Kif, und es ist fünf Uhr. Wie Spitzwegs armer Poet liegt Paul Bowles, ein hagerer Eremit mit weicher Stimme, in seiner Matratzengruft, schlürft den Tee mit dem Strohhalm, zieht am Kif-Pfeifchen. Er trommelt kraftvoll und rhythmisch mit den Fingern auf dem Teetablett, streicht sein fahles Haar glatt und hört zu oder tut jedenfalls so.

David und Valeria aus München – er Brite, sie Argentinierin – heißen die unagemeldeten Besucher dieses Nachmittags. Valeria ist schwanger, David noch leicht unglücklich über die ungeplante Familienerweiterung; und als letzte Reise, ehe sie für Jahre an ihr Kind gebunden sein werden, wollten die beiden Paul treffen, der so viel wisse über das Leben. Aber darüber hat er alles schon geschrieben; er zitiert sich nicht gerne selbst. Beichtvater oder Pro-Familia-Berater sind nicht seine Rollen.

Lieber erzählt er eine kleine Geschichte: wie er in den 30er Jahren auf einem Frachter, der ein Rhinoceros von Rangun nach Oslo brachte, mitreiste und wegen eines Streikes der Mannschaft das Rhinoceros, das an der Hitze zu sterben drohte, ständig mit Wasser abduschte, bis die Mannschaft den Streik beendete und sich wieder des Nashorns annahm. „Freuen Sie sich“, sagt er mit einer Spur von Grinsen auf dem Gesicht zu dem Pärchen, „Sie müssen kein Rhinoceros großziehen“. David und Valeria verstehen die leise Ironie des alten Mannes nicht. „Dürfen wir Ihnen schreiben, Paul?“, fragen sie, bevor Bowles die Audienz höflich beendet. Aber ja, sagt er, manchmal komme die Post sogar an, die man ihm schicke.

Bowles greift zu einem kitschig blaugeblümten Blechetui, holt einen der dünnen, gleichmäßig gedrehten Joints heraus. „Die Leute fragen mich immer, warum ich in Tanger bin. Ich weiß es nicht. Es waren immer die Umstände, die meinen Weg bestimmten. Ich hatte nie Pläne. Tanger ist reizvoll. Es ist durch und durch korrupt.“ Er macht eine Pause, zieht am Strohhalm und schiebt sich ein „Peanuts Butter Cookie“ in den Mund. „Eigentlich sollte ich unangemeldete Besucher abweisen, da ich nicht mehr zum Nachdenken komme. Aber sie fahren weit, um mich zu sehen. Nun, mit Kif läßt sich das Leben ertragen.“ Bowles raucht Kif meistens pur. Tabak hat ihm sein Arzt vor über 15 Jahren eigentlich verboten.

Bowles greift zu einem Katalog „Ford Mustang 1966“. Für sein silbergraues Cabrio mit weißen Ledersitzen, über 100 000 Meilen auf dem Tacho, müsse er Ersatzteile beschaffen. Zwar saufe der Mustang zu viel Benzin. „Aber dieses herrliche blubb-blubb des Motors hat eben seinen Preis.“ Mit Autos hat er kein Glück. Bowles‘ Jaguar, Baujahr 1949, sei ihm gestohlen worden, und in gutem Glauben habe ihn Marokkos größter Sammler, König Hassan gekauft – ziemlich schwierig, den Jaguar zurückzuverlangen.

Was für ein Gefühl mag es sein, Fremde zu empfangen, die einen noch sehen wollen, ehe man stirbt? „Paul“, sagt ein Freund, „macht sich einen Jux daraus“. Interviewer, die ihm große Antworten des Existentialismus abringen wollen, die ihn nach seinen homoerotischen Neigungen, nach seiner 1973 verstorbenen bisexuellen Frau Jane fragen, die verhöhnt er elegant mit knappen oder schrägen Antworten.

Philosophierende Frager und fanatische Leser nimmt er, der Freund von Sartre und Genet, selten ernst. Nur vor kurzem, da habe er auf eine blöde Frage die absolut ehrliche Antwort gegeben. Ob Tanger sterbe, wenn er, Paul, dereinst nicht mehr sei, wollte ein französischer Reporter wissen. Bowles überlegte nicht lange. „Es wird eine große Beerdigung geben, und später werden die Leute an mein Grab in Tanger pilgern so wie sie jetzt zu mir in die Wohnung kommen“.

Der alte Mann lächelt schelmisch, freut sich über die angemessen aufrichtige Replik, zieht an seinem Joint und verabschiedet mit mühsam geöffneten Augen den Besucher: „Meinen Sie, ich finde in Deutschland Ersatzteile für meinen Mustang?“


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